Staffels Welt
Alltägliche Terrorwarnung
Dienstag, 16. Dezember 2014
Staffels Welt zieht um
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Donnerstag, 10. Oktober 2013
Die Jagdtrophäen von Wladimir Putin – Teil 4: Schnullerschwänze
Wladimir Putin hörte das Rauschen
des Flusses, aber er konnte nichts sehen. Der Bär trieb auf die Stromschnellen zu.
Der Gestank der Gedärme machte Wladimir Wladimirowitsch Putin bewusst, dass er
im Inneren des Bären steckte. Rita musste ihn hineingestopft und dann die
Bauchdecke des Bären zugenäht haben. Putin schrie und übergab sich. So hatte er
sich seinen Tod nicht vorgestellt. Er hatte sich seinen Tod überhaupt nie
vorgestellt. Владимир Владимирович Путин wollte nicht sterben. Er musste
einfach ewig sein. Das Fettgewebe fing die Stöße der Stromschnellen ab,
zwischen denen sein Bären-U-Boot hin und hergeschleudert wurde. Wladimir
versuchte, bei Bewusstsein zu bleiben. Das Tosen verhieß nichts Gutes. Ein
Wasserfall. Die Haut des Bären würde beim Aufprall zerplatzen und dann – war er
entweder frei oder das Unvorstellbare würde eintreten. Wer war diese Frau?
Rita. Ihr hatte er seine chronische Analfissur zu verdanken. Regelmäßig musste
das vernarbende Gewebe operativ entfernt werden. Bei jedem Schnitt dachte
Waldimir Waldimirowitsch an Rita. Sie war die letzte, die er mit einem
Umschnalldildo an sich herangelassen hatte. Er wollte dieses Gefühl einfach
nicht vergessen, auch wenn er die Frau vergessen hatte, Rita. Und nun war sie
wieder da, hatte ihn in vor einem Bären beschützt und dann .... wo waren seine
Jungs gewesen? Putin bemühte sich, nicht an dem Gemisch von Kotze und Innereien
zu ersticken, bevor er den Wasserfall hinunterstürzte. Er wimmerte, dachte an dicke,
fette, unberührte Schwänze. Die benutzte er gern als Schnuller, wenn er nicht
mehr weiter wusste. Dimitri Borodin hatte sie ihm besorgt. Sie durften
allerdings nie älter als vierzehn sein. Putin verlieh Dimitri Borodin den diplomatischen
Status, sorgte also für seine Immunität und schickte Borodin dann vornehmlich
durch Europa auf Rekrutierungsreise. Der Bär stürzte mit Putin in die Tiefe und
in Wladimir Waldimirowitsch hallte das höhnische Gelächter nach, das sein
Blumenimportverbot verursacht hatte. Was war nur aus ihm geworden? Adrenalin
kochte auf. Borodin spielte mit 5-Jährigen, die Holländer verletzten seine
Immunität. Das hatte er nicht ignorieren können. Wladimir Putin schrie auf. Es
durften keine Blumen mehr aus Holland importiert werden. War ihm wirklich
nichts anderes dazu eingefallen? Blumen? Der Bär traf auf; die Bauchdecke zersprengte.
Waldimir Wladimirowitsch wurde aus dem Leichnam herausgeschleudert. Immer noch
angetrieben vom Adrenalin, das er den Gedanken an den Genossen Borodin
verdankte, köpperte Putin unter dem Wasserfall ins Auffangbecken, tat ein paar
Züge unter Wasser, tauchte auf und zog sich völlig erschöpft ans Ufer. „Ich bin
in Sicherheit.“, dachte er. Duke konnte es in seinem Gesicht lesen. Soll er sich
in Sicherheit wiegen, dachte Duke. Verbissen versuchte Rita, Dukes Verband zu
wechseln, während Владимир Владимирович Путин sich zu vergewissern suchte, ob
seine Eier noch vorhanden waren. Er verlangte nach seinen Leibwächtern, doch niemand
ließ sich blicken. Wenigstens seine Eier waren noch da, auch wenn Wladimir
Wladimirowitsch keine Ahnung hatte, was er, ganz auf sich allein gestellt, mit
ihnen anfangen sollte. (Fortsetzung
folgt)
Donnerstag, 26. September 2013
Grenzgänger 3
Die meisten Wohnungen wurden
verkauft. Der Mieteraltbestand endgültig rausgekehrt, damit die neuen Besitzer,
die von überall her kamen, weiter aufwerten konnten. Viele Häuser wuchsen. Weil
ein Penthouse mit Dachgarten und Whirlpool darauf kam, das dann für zwei
Millionen verkauft werden konnte. Mischa saß draußen vor seiner Gaststätte,
schlürfte Weißwein und wunderte sich über die neuen Gesichter. Und vermisste
die alten. Die Neuen grüßten nicht. Die Neuen wunderten sich genauso. Das
Wohnzimmer entsprach nicht ihrem Stil. Es passte nicht ins Bild. Denen, die das
Wohnzimmer weiterhin besuchten, war klar, sie waren aus dem Bild endgültig
herausgefallen. Nur solange sie im Wohnzimmer waren, bemerkten sie es nicht. Sobald
sie auf die Straße kamen, waren sie unerwünscht und sahen zu, dass sie so schnell
wie möglich verschwanden. Mischa war einer der wenigen, die blieben. Aber auf
dem Weg vom Wohnzimmer zu seinem Balkon wurde er zum Fremden. Nur an das
Wohnzimmer kamen die Neuen nicht heran. Weil es Mischa gehörte. Dort konnte er
machen, was er wollte, genauso wie die Neuen auf den Dachterrassen in ihren
Whirlpools. Zumindest dachte Mischa das. Saß mit seiner Schiebermütze auf dem
Kopf an einem Tisch, trank Weißweinschorle, empfing seine Gäste und unterhielt
sie. Und ahnte nicht, was vor sich ging.
Heute ist Mischa 67 Jahre alt. Sein
Balkon ist bepflanzt. Aber nicht von Mischa. Von der Haushälterin des Ehepaars,
das in Mischas Wohnung wohnt, weil es sie gekauft hat. Die Rollläden vom
Wohnzimmer sind heruntergelassen. Seit Wochen schon. Der Eingang ist versiegelt.
Es darf keiner mehr rein. Wenn die Versiegelung aufbricht, weiß die Polizei,
dass einer drin war und hat das Recht, denjenigen zu verhaften. So wie Mischa.
Den haben sie auch verhaftet. Deswegen wurde das Wohnzimmer versiegelt. Weil es
ein Beweisstück ist. Schwer vorstellbar, dass ein ganzes Lokal als Beweisstück
dienen soll. Wie will man eine Gaststätte in einer Asservatenkammer
unterbringen? Vielleicht ist es auch nur der Tatort, der versiegelt wurde, und
ehe der nicht zu Ende untersucht ist, bleibt es eben ein Tatort, den kein Unbefugter
betreten darf. Nur dass da schon seit Wochen nichts mehr untersucht wird. Die Untersuchungen
sind offiziell längst abgeschlossen. Als sie kamen, war Mischa gerade in ein Gespräch
vertieft. Er hat sie nicht kommen sehen. Dann ging alles ganz schnell. Mischa
hat sich nicht gewehrt. Sie haben ihm trotzdem die Hände mit Handschellen
hinter dem Rücken verbunden. Wir konnten nichts machen. Unsere Personalien
wurden aufgenommen, dann mussten wir das Wohnzimmer verlassen. Draußen fuhr
Mischa in einer Wanne davon. Man hat nur noch die Schiebermütze hinter der
vergitterten Panzerglasscheibe gesehen. Es gab keinen Abschied. Alle haben sich
verdrückt. Die Rollläden wurden heruntergelassen und dann versiegelt. Auf der
anderen Straßenseite standen die Schaulustigen. Oder sie hingen in den Fenstern,
standen auf den Balkonen. Man hörte Korken knallen und den hellen Klang von
Champagnerflöten, die aneinanderstießen. Die Neuen, die sich vorbeischoben,
hatten plötzlich ein Lächeln auf den Lippen
Jede Woche kommt einer zu Mischa in
die Vollzugsanstalt, der unser Wohnzimmer kaufen will. Die Neuen wollen einfach
nicht kapieren, dass eine Verurteilung mit anschließender Haftstraße nicht
automatisch zum Verlust von Eigentum führt. Ihr Verrat bleibt lediglich ein
Teilerfolg. Auf ihrem Bild ist nach wie vor ein Fleck. Mischas Anwalt sagt, sie
können den Laden nicht länger unter Verschluss halten. Wenn man Mischa fragt,
was daraus werden soll, schiebt er sich die Schiebermütze in die Stirn und sagt
nichts. Er sagt überhaupt nie was, wenn man ihn besucht. Ist irgendwoanders mit
seinen Gedanken. Schon immer ist Mischa zwischen Welten gewandelt. Nur diesmal
kommt er aus der einen nicht mehr raus. Vielleicht lässt er einen deshalb in
die andere, die in seinem Kopf, nicht mehr rein. Ich fahre trotzdem jede Woche
zu ihm. Irgendwann kommt er zurück, da bin ich sicher.
Mittwoch, 25. September 2013
Grenzgänger 2
Als die vom Amt Mischa die Maßnahme
Computer verordneten, meinte Mischa nur: Computer kann ich schon. Diese
Maßnahme hatte er längst selbst ergriffen. Trotzdem war er dankbar. Weil er so
auf die Idee kam, dass man auch andere Maßnahmen für sich selbst ergreifen konnte.
Im world-wide-web stieß er schließlich auf den Begriff ‚Entrepreneurship’. Der
Gedanke, unabhängig ein Unternehmen zu gründen, gefiel ihm. Angeblich musste
man niemanden um Erlaubnis fragen, wenn man das Kapitalrisiko einfach selbst
trug. Angeblich benötigte man kaum Startkapital. Wenn die Idee und ihr Design
stimmte, konnte man ohne bürokratischen Aufwand einfach loslegen. Mischa fragte
sich: Was kann ich anbieten, das besser und günstiger ist als das, was andere
anbieten? Wie kann ich mich möglicher Trittbrettfahrer erwehren? Was ist mein
Alleinstellungsmerkmal? Mischa konnte besser denken, wenn er dabei rauchte.
Besonders gut dachte er, wenn er Haschisch rauchte. Er bevorzugte Zero, die
zweite, ungestreckte Siebung des Harzes. Und da kam er auf den Gedanken: Wie
kann ich Zero ohne Zwischenlieferanten beziehen? Denn wenn ich direkt von der
Quelle beziehe, verbürgt das die Qualität und mindert zugleich den Preis, so
dass ich selbst beste Qualität günstig verkaufen kann. Mischa wusste: So denkt
ein Entrepreneur. Also gründete Mischa ein Unternehmen, wobei er sich von
Anfang an darüber im Klaren war, dass seine Kundschaft überschaubar bleiben
musste. Freunde und Freunde von Freunden; Leute, die eine Empfehlung
vorzuweisen hatten, oder denen er aufgrund eines Blicks oder ein paar Worten
vertraute. Seine Menschenkenntnis würde ihm das erlauben. Wichtig war nur, dass
die Konkurrenz nicht auf ihn aufmerksam wurde, denn als Konkurrent verstanden,
hatte er keinerlei Überlebenschance. Als das Plastinat eines Entepreneuers in
einer Wanderausstellung wollte er nicht enden. Ein Vertrauter organisierte
Mischa die entscheidende Reise, deklarierte sie als Erholungsmaßnahme,
vermittelte Kontakte. Mischa münzte die Erholungsreise vor Ort unbemerkt in
eine Dienstreise um, während der er sich mit einem Produzenten einig wurde und
den Transportweg sicherte. Wieder zuhause in seinem Wohnzimmer war klar, er
braucht auch keine Bürosoftware oder Verkaufsräume, sofern der Wohnzimmerbetreiber
eingeweiht und einverstanden sein würde. Da dieser Betreiber zugleich auch das
Haus besaß und somit nicht nur der Vermieter von Mischas Balkon sondern
außerdem sein Freund war, stand Mischas Unternehmen nichts mehr im Weg. Niemand
verlangte einen Businessplan oder eine Rentabilitätsvorschau oder erklärte
Mischas Existenz für nicht gründungsfähig. Das Amt hielt keine weiteren
Maßnahmen bereit, weil Mischas Existenz als grundlegend gescheitert galt.
Wer etwas kaufen wollte, ohne Mischa
zu kennen, erkannte Mischa an seiner Schiebermütze. Wer etwas kaufen wollte,
kam ins Wohnzimmer. Wer nichts davon wusste, bemerkte nichts. Mischa war der
Patron der Gaststätte. Er war immer da. Nicht vermittelbar, aber mit eigenem Unternehmen
im Nachgrenzland. Dort hielt er Hof. Die Leute setzten sich zu ihm, und Mischa
redete mit ihnen. Oder sie redeten mit Mischa. Wie gesagt, er hatte zu allem
etwas Gehaltvolles zu sagen. Die Warenübergabe war Teil des Gesprächs, ein Teil
der Gestik, der man nichts weiter als die Untermalung eines Gesprächs entnehmen
konnte, ganz sicher keinen Tauschhandel. Am Wochenende war der Platz an Mischas
Tisch besonders begehrt; seine Gesprächspartner wechselten ununterbrochen.
Niemand wunderte sich. Mischa war der Wunderheiler. Die Seele des Wohnzimmers.
Und das Wohnzimmer war eine Bastion der Ruhe, die sich der Flut der
Veränderungen, die sich draußen abspielten, stand hielt.
Die Häuser fingen an, sich zu
verändern. Wohnraum wurde aufgewertet. Das bedeutete, dass viele ihren Wohnraum
verlassen mussten, um für andere Platz zu machen, die sich den Wohnraum zu den
neuen Konditionen leisten konnten. Nur die Gäste im Wohnzimmer blieben die
gleichen, auch wenn sie neuerdings anreisen mussten. Ihre Heimat schrumpfte immer
mehr zusammen, bis sie nur noch aus einem Wohnzimmer bestand. Und aus dem Heimatschützer
Mischa. Hinter der Theke arbeitete weiterhin Amélie; sie hatte eine 8-jährige
Tochter und sonst keine Arbeit. Außerdem Hannes, der war schon immer grau im
Gesicht gewesen, und Hendrik, der träumte von einem Motorrad, das zu seiner
Kutte passte. Ihnen gab die Heimat Arbeit, sie waren angewiesen auf ihre
Heimat, genauso wie Mischas Unternehmen. Nur der Hausbesitzer fand für sich
heraus, dass Heimat nicht ortsgebunden sein musste. Er verkaufte das Haus, um
die Welt bereisen zu können. Der Käufer hatte eine andere Vorstellung von
Heimat. Das Wohnzimmer passte nicht in sein Konzept. Das Wohnzimmer war nicht
zeitgemäß, befand er. Mischas Angebote wurden ignoriert. Das Wohnzimmer war
Geschichte. Mischa stand zwar immer noch auf seinem Balkon, aber seine
Kundschaft stand auf der Straße, genau wie Amélie, Hannes und Hendrik. Das
konnte Mischa nicht zulassen, nicht nur, weil ihm diese Entwicklung überhaupt
nicht gefiel, sondern weil sie auch den Unterhalt seines Balkons gefährdete.
Mischa entschloss sich, seine Fähigkeiten als Entrepreneur für ein Social
Business einzusetzen. Er investierte die Gewinne seines Unternehmens und kaufte
ein gerade freigeräumtes Lokal ein paar Häuser weiter. Das Wohnzimmer wurde
umgesiedelt, ohne die gewohnte Umgebung verlassen zu müssen. Amélie, Hendrik
und Hannes blieben fortbildende Maßnahmen erspart. Mischa konnte weiter als
Gesprächspartner dienen. Nur Mischa wusste, wie schmal der Grat war, auf dem er
wandelte. Dass er doch noch anfing, über einem Abgrund zu balancieren. Das
Wohnzimmer allein trug sich nicht. Er konnte seiner Verantwortung für die Gäste
und das Personal nur gerecht
werden, solange sein Unternehmen erfolgreich blieb. Niemand war in der Lage,
diese Verantwortung zu teilen. Wahrscheinlich wollte es auch niemand. Es war
einfacher, sich auf Mischa zu verlassen und alles andere zu verdrängen. Zunächst
lief es gut. Ziemlich lange lief das so. Dann kam die zweite Welle. Mit der
hatte niemand gerechnet. Selbst Mischa nicht. (Fortsetzung folgt)
Dienstag, 24. September 2013
Grenzgänger 1
‚Mischa’ nennen ihn alle. Früher hat
er auf die Grenze gespuckt. Beim Erde umgraben. Oder beim Pflanzensetzen.
Mischa war Landschaftsgärtner bevor die Grenze überflüssig wurde. Mischa spuckte
nicht länger auf die Grenze, aber Landschaftsgärtner war er auch keiner mehr.
Hat sich verändert, die Landschaft. Ohne Grenze gab’s keinen Bedarf mehr für
Gärtner von drüben. Von drüben war man immer noch, auch ohne Garten, ohne
Grenze. Mischa stand auf seinem Balkon, hat auf die Straße runtergeguckt und
sich gefragt, was er jetzt machen soll. Ob er aufs Balkongeländer steigen und
darauf balancieren soll. Er hat sich gefragt, ob das auch zwei Welten sind, die
zwei Seiten, auf die er fallen konnte. Sein Balkon und die Welt darunter, die
Straße, auf der dann irgendetwas zu Ende gegangen wäre. Etwas, das sein Leben
war, wahrscheinlich. Mischa hatte keine Lust über einem Abgrund zu balancieren.
Mischa stand einfach so auf seinem Balkon, hat sich aufs Geländer gestützt,
Weißweinschorle geschlürft, sich Kippen gedreht, eine nach der anderen geraucht
und dabei nachgedacht. Mit der Schiebermütze auf dem Kopf. Die hat er damals
schon immer aufgehabt. Die Schiebermütze.
Auf der Straße unter mir ist
irgendwas anders, dachte Mischa. Da waren jetzt viele, für die er einer von
drüben war. Zogen umher und besetzten die Erdgeschosse, um darin zu feiern.
Wenn jemand kam, um auf sein Besitzrecht zu pochen, zogen sie weiter ins
nächste. Das Erdgeschoss von Mischas Haus konnten sie nicht besetzen. Da gab es
schon Gastronomie. Die war schon zu Grenzzeiten legal gewesen und blieb es auch
danach. Für Mischa und die Leute aus dem Kiez war das Lokal ein Wohnzimmer.
Mischas Platz war auf einem Hocker an der Theke oder in einem der Sessel am
Fenster. Es gab auch Sofas und Stühle, Schach, Zeitschriften und Bücher.
Außerdem wurde jeden Tag ein Tagesgericht gekocht. Gulasch oder Nudeln oder Kohlrouladen.
Man konnte schon mittags Bier oder Kaffee trinken und neuerdings von den
Tischen auf dem Gehweg aus Touristen gucken. Mischa mochte Perspektivwechsel.
Er wanderte zwischen Balkon und Wohnzimmer hin und her.
Irgendwann standen auf der Straße
die ersten Umzugswagen. Und Bauschuttcontainer. Für Mischa gab’s Maßnahmen.
Niemanden interessierte es, dass Mischa noch weiter nachdenken wollte. Dass er
die Veränderungen seiner vertrauten Umgebung von seinem Balkon aus
kartografierte. Für Mischa hieß es: runter von dem Balkon, ab in die Chemie.
Die erste Maßnahme sah seinen Einsatz in einer Chemiefabrik vor. Mischa musste
nach Spandau raus, jeden morgen erst Straßenbahn und dann mit der Stadtbahn in
den Westen raus. Da haben sie Polyesterharze produziert. Mischa hat sie nie zu
sehen bekommen, aber gerochen hat er sie. Brauchte man für Lacke, die Harze. Und
für die Griffe von Bügeleisen oder Kochtöpfen. Mischa konnte keinen Topf mit
Kunststoffgriffen mehr sehen, ohne zu denken: Das bin ich. Dabei war er nur
Hilfsarbeiter. Einer von drüben. Abends an der Theke vom Wohnzimmer war er wieder
einer von hier, also von dort, wo er hingehörte. Aber den Geruch von drüben,
den wurde er nicht los. Die Polyesterharze. Einer erzählte ihm, dass man damit
auch Leichen präparieren konnte. Die Harze zur Konservierung statt Wasser in
die Körper füllte. Und dass so die Körper dann ausgestellt werden konnten. Also
die Leichen. Damit jeder sehen konnte, wie ein Körper von innen aussieht, also
in echt. Die Chemiemaßnahme griff bei Mischa nicht länger. Lieber überlegte er,
ob er seinen Balkon bepflanzen sollte. Stattdessen schickten sie ihn aber in
den Tierpark Ost. Schließlich war er ja Gärtner. Im Tierpark gab es genug
Grünflächen, um die man sich kümmern musste. Mischa fuhr jeden morgen mit der Stadtbahn
raus nach Friedrichsfelde. Musste immer an Plastination denken, wenn er die
Tiere sah. Wie ein Nashorn oder ein Flamingo wohl aussehen würden, von innen,
wenn einer Polyesterharz in sie hineinfüllte. Als er noch an einer Grenze
entlanggegärtnert hatte, war sich Mischa nie bewusst gewesen, dass man sich
Tiere wie im Museum angucken kann, auch wenn die Tiere noch leben. Wenn man
nicht zu den Tieren reisen konnte, mussten die Tiere eben rangeschafft werden.
Und damit sie blieben, wurden sie eingezäunt. Wie Mischa früher. Jetzt war die
Grenze weg, aber die Leute kamen erst recht, um einen anzustarren. Mischa kam
nicht damit zurecht, mit den Freiflächen zwischen den Käfigen, mit dieser
Exillandschaft, die er zum Vergnügen anderer zu bewirtschaften hatte. Auch diese
Maßnahme musste abgebrochen werden. Mischa landete wieder auf seinem Balkon,
ging runter ins Wohnzimmer, setzte sich an die Theke und bestellte eine
Weißweinschorle. Er drehte sich eine Zigarette und rauchte, die Schiebermütze
tief in die Stirn geschoben. Um ihn herum saßen Studenten, Malermeister und
Elektroinstallateure. Kartenabreißer aus dem Theater und Journalisten, die
selbst eine Maßnahme ergriffen und anfingen, ihre Memoiren zu dichten. Mischa
kannte alle. Und alle kannten Mischa, weil Mischa immer da war. Und sich alles
anhörte, was man ihm erzählte. Und auch zu allem etwas zu sagen hatte. Sachen,
auf die kein anderer je gekommen wäre. Niemand wusste, wie alt Mischa war. Aber
alle hielten ihn für weise. Die Schiebermütze verdeckte seine grauen Haare. (Fortsetzung folgt)
Samstag, 24. August 2013
Die Jagdtropghäen von Wladimir Putin – Teil 3: Piercings
Den Bär hatte niemand kommen sehen,
auch Rita nicht. Als der Schuss fiel, hatten Duke und Rita ihre Masken bereits
aufgesetzt. Woher Rita das Blasrohr hatte, wusste Duke nicht. Sie hatte es nie
erwähnt. Die Fotografen kippten als erste um, dann folgten zwei von Putins Leibwächtern
und schließlich Putin selbst. Eben hatte er sich noch beim Herumfuchteln mit
seiner Angel einen Haken in die Nase gestochen, jetzt plumpste er mit
verdrehten Augen kopfüber ins Wasser. Prompt sprangen die Lachse. Duke und Rita
blieb nicht viel Zeit. Wladimir Waldimirowitsch Putin durfte auf keinen Fall
ertrinken, und sie mussten ihn hier weggeschafft haben, bevor Putins Entourage
wieder erwachte. Rita benutzte kein tödliches Gift für ihre Pfeile, so viel
hatte Duke auch ohne zu fragen verstanden. Was er nicht verstand, war, woher
der Bär gekommen war, der sich zwischen Putin, ihn und Rita drängte. Rita
sprang furchtlos auf den Bären zu. Duke betrachtete sein Fischmesser. Er riss
sich die Maske vom Kopf und brüllte alle Wut, allen Zorn und allen Schmerz aus
sich heraus. Der Bär erstarrte. Rita lächelte. Duke folgte ihr. (Fortsetzung folgt)
Freitag, 23. August 2013
Die Jagdtrophäen von Wladimir Putin – Teil 2: Die kaputte Seele von Seeed
Wladimir Wladimirowitsch Putin zog
sein Hemd aus und stieg zu den Lachsen ins Wasser. Seine Entourage plantschte
am Ufer, seine Boys staksten hinter Wladimir her, schleppten die Ruten und
Köder. Im Schilf am anderen Ufer verbargen sich Rita und Duke. Noch vor einer
halben Stunde hatten sie gestritten. Duke bestand darauf, die Fischmesser
einzusetzen. Von Gewehren hatte er noch nie viel gehalten. Obwohl er es mochte,
wenn Rita fliegende Lachse schoss. Es erinnerte Duke an Tontaubenschießen, ließ
ihn vom schottischen Hochland träumen, seiner Heimat, in die er
höchstwahrscheinlich nie zurückkehren würde. Wenigstens gehen wir zusammen
unter, dachte Duke. Putins praller Oberkörper glänzte in der Spätnachmittagssonne.
Die Fotografen gingen in Stellung. Genau wie Rita. Vielleicht würde einer sie
abschießen, sie irgendwann auf diesem Bild entdecken, das eigentlich etwas ganz
anderes zeigen sollte. Putin schrie auf. Er war in einen Mückenschwarm geraten.
Rita konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Vögel schreckten hoch. Die
Leibwächter drehten hektisch ihre Köpfe hin und her. Für einen Moment schien
das Flusswasser rückwärts zu fließen. Waldimir Wladimirowitsch verlangte nach
einem Handtuch. Ein weißes Handtuch flog auf ihn zu. Ritas Finger am Abzug, das
Fischmesser zwischen Dukes Zähnen. „Nein“, zischte er. Zur gleichen Zeit flog
ein weißes Handtuch von der Freilichtbühne der Berliner Wuhlheide. Duke meinte
die Musik zu hören. Rita hielt inne. Die Bässe massierten ihr Herz. Das konnte
nicht sein. Nicht jetzt. Bitte nicht, dachte Rita. Seeed spielte auf. Sie waren
zurückgekommen, die Menge strömte ihnen begeistert zu, doch schon nach den
ersten Takten war klar, Seeed hatten ihre Seele verkauft. 17 000 klatschten
unentwegt den Beat mit und spürten die Kälte nicht, kapierten nicht, dass sie
es waren, die dafür aufzukommen hatten. Für die Seele, die Schulden, wer wusste
schon, wofür die Band sich wieder zusammengeschweißt hatte. Musik war es nicht.
Peter Fox schwenkte ein weißes Handtuch nach dem anderen und warf sie dann in
die Menge. Niemand wollte sie haben. So leicht waren selbst die Jünger nicht zu
überlisten. Putin kreischte. Die Lachse wollten nicht springen. Sein rechter Gummistiefel
steckte im Schlamm fest. Putin begann zu schwanken. Mütter tanzten mit ihren
Kindern, deren Großväter in die Hände klatschten, während Seeed auf der Bühne
ihre vorgefertigten Sounds abspielen ließen. In Amsterdam hatte das angeblich
besser funktioniert. In Amsterdam hatte die Masse sich den falschen Bewegungen
der Band bereitwilliger hingegeben. Die Wuhlheide ließ sich nicht so leicht
vereinnahmen. Oder doch? Rita schloss die Augen. Duke griff nach ihrem Arm. Was
ging hier vor? Putin erstarrte, seinen Blick auf Rita und Duke gerichtet. Er
konnte sie nicht sehen. Das war unmöglich. In der Wuhlheide verließen Seeed!
die Bühne. Es waren gerade einmal 75 Minuten vergangen. Eine Sicherheitskraft
zog seine Waffe. Niemand hörte den Schuss. Doch dann ging alles ganz schnell. Es
war nicht aufzuhalten. (Fortsetzung
folgt)
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